15. Kapitel

 

Wo bleibt er nur, Liam? Es ist jetzt schon eine halbe Stunde um!«

Lea zog ihre Beine an die Brust. Sie fühlte sich sehr jung. In der vergangenen halben Stunde war sie unruhig im Hotelzimmer auf und ab gegangen, doch dann hatte sie sich schließlich einen der Esszimmerstühle genommen und sich so hingesetzt, dass sie die Türe im Auge behalten konnte.

»Ach, dem ist schon nichts passiert«, ertönte Liams Stimme von der Couch zu ihrer Linken. »Er ist doch ein Vampir.«

Erneut sprang sie auf. Hin- und hergehend raufte sie sich die kurzen, zerzausten Haare. »Wie kannst du da so sicher sein? Sie sind zu viert, und sie sind bewaffnet!«

Lea hörte Liam seufzen und wollte ihm schon über den Mund fahren, als ein Geräusch an der Türe sie innehalten ließ. Das musste Adam sein! Aber wenn nicht?

In ihrer Panik griff Lea nach dem nächstbesten schweren Gegenstand, der ihr in die Finger kam. Dann sprang sie leise zur Türe und bezog daneben Stellung.

»Lea, das ist nicht Adam, da draußen!«, sagte Liam erschrocken neben ihrem Ohr. »Los, versteck dich!«

»Und wo?«, zischte sie. »Unter dem Bett? Da schauen sie doch als Erstes nach!«

Sie konnte es direkt vor sich sehen, wie sie unter dem Bett lag und mit angehaltenem Atem die Füße des Eindringlings näher kommen sah ... Nein! Sie hatte nicht die Absicht, sich wie eine dieser doofen, vollbusigen Blondinen in Horrorfilmen zu verstecken und zu warten, bis man sie fand und in Streifen schnitt! Entschlossen umklammerte sie die Statue der Meerjungfrau.

»Lea!«, winselte Liam.

»Mann, wo denn? Im Schrank?«

Sie wollte mehr sagen, doch in diesem Moment wurde an die Türe geklopft. Geklopft? Welcher Killer klopft denn erstmal an?

»Lea, Menschenskind, jetzt versteck dich doch!«, flehte Liam verzweifelt.

Aber Lea konnte sich nicht rühren. Nein, lieber kämpfend untergehen. Oder? Oder doch verstecken? Wie eine Memme? Aber die Entscheidung wurde ihr abgenommen.

Ein leises Klicken ertönte, und die Türe ging auf.

Mit wild hämmerndem Herzen hob Lea die Statue. Und als der Kopf des Mannes auftauchte, schlug sie zu.

Daneben. Er hatte sich weggeduckt. Von der Gewalt des Schlags getrieben stolperte Lea vorwärts. Die Statue donnerte an den Türrahmen, dass ihre Arme vibrierten. Mist.

»Lea, hinter dir!«

Alarmiert von Liams Schrei, fuhr Lea herum und holte erneut aus, diesmal mit der geballten Faust. Aber eine starke Hand umschloss ihr Handgelenk und hielt ihren Arm mühelos fest.

»Ich bin kein ...«

Aber Lea ließ ihn nicht ausreden. Sie schaute ins Gesicht ihres Angreifers auf und holte mit der anderen Faust aus.

Auch die fing er mühelos ein. »Stop!«

Stop, mein Arsch! Damit er sie in Ruhe umbringen konnte? Keine Chance. Lea trat ihm so fest sie konnte ans Schienbein. Seine Augen verengten sich, ansonsten aber zeigte er keinerlei Reaktion. Er wirbelte sie herum und hielt sie an sich gepresst, die Arme vor ihrer Brust verkreuzt, damit sie ihn nicht mehr schlagen konnte.

Da trat sie ihm so fest sie konnte auf den Zeh. Er riss ihre Arme nach hinten, und Tränen der Wut schössen ihr in die Augen. Sie hatte sich die Zehen angehauen, und ihre Arme taten weh, verdammt noch mal.

»Himmel noch mal, ich will Ihnen nicht wehtun!«, herrschte sie ihr Angreifer an.

Lea erstarrte. Ihre Gedanken rasten. Was wollte er dann?

Blöde Frage. Die Menschen taten sich ohne Grund weh.

Das hatte sie erlebt. Nein, jetzt bloß nicht an Lochrin Place denken. Das ist nicht dasselbe, das ist nicht dasselbe!

»Aber Sie tun mir weh«, entgegnete sie keuchend. Er lockerte sofort seinen Griff, ließ sie aber nicht los.

»Lea, die Tür ist nur angelehnt. Bring ihn dazu dich loszulassen, und dann lauf! Lauf!«, rief Liam aufgeregt.

Bring ihn dazu dich loszulassen? Ja, klar. Liam war ein verdammtes Genie. Wenn er ihr jetzt noch sagen würde, wie sie das bewerkstelligen sollte, dann wäre der Geist eine tatsächliche Hilfe.

»Meine Arme tun noch immer weh«, versuchte sie es mit ihrer kläglichsten Kleinmädchenstimme, »könnten Sie mich loslassen, bitte?«

Der Angreifer stieß einen entnervten Seufzer aus und ließ sie tatsächlich los! Sie ließ die Arme sinken, machte einen Ausfallschritt, wirbelte herum und rammte ihm das Knie in seine empfindlichsten Teile, dass es ihm die Luft aus den Lungen trieb.

»Lauf!«, schrie Liam, aber das war gar nicht nötig. Lea riss die Türe auf und rannte in den Gang hinaus.

Sie kam etwa fünf Schritte weit, als zwei stählerne Arme sie von hinten packten und festhielten.

»Hi...!«

Er schnitt ihr die Luft ab. Lea strampelte, trat und schlug um sich, aber es half nichts: Sie wurde unweigerlich zum Zimmer zurückgetragen. Kleine schwarze Pünktchen tanzten vor ihren Augen, sie konnte kaum noch atmen.

Liam schrie weiter Instruktionen auf sie ein, rechter Haken, linker Kick, aber sie konnte nicht mehr.

Zum zweiten Mal an diesem Tag wurde ihr schwarz vor Augen.

Adam schaute auf die Leiche des Killers zu seinen Füßen und fluchte laut. Das war nicht gut, gar nicht gut.

Er schob die Hand in die Tasche und holte sein Handy heraus.

William nahm schon naoh dem ersten Läuten ab.

»Adam?«

»Wir haben ein Problem. Nur einer von denen ist aufgetaucht. Wollte ausreißen, nachdem ich ihn entwaffnet hatte und hat's geschafft, sich dabei das Genick zu brechen.

Von dem erfahren wir nichts mehr, leider.«

Der Kommandeur der Friedenshüter seufzte. »Ich werde einen Bericht vorlegen müssen, Adam. Du weißt ja, wie das läuft.«

Das wusste Adam. Vampire durften an Menschen weder ihren Hunger stillen, noch ihnen etwas zuleide tun. Nur wenn das eigene Leben auf dem Spiel stand, durfte man in Selbstverteidigung töten. Manchmal, wenn auch selten, war ein Friedenshüter gezwungen, Menschen zu töten, und obwohl das nicht gegen Vampirgesetze verstieß, verlangte das House of Order jedes Mal eine Untersuchung.

»Ich hab jetzt keine Zeit, mich von einem Interrogator grillen zu lassen!«, zischte Adam. »William, die sind hinter der Frau her, sie schwebt in Lebensgefahr, und wenn die Formel...«

»Unseres Wissens ist nichts gestohlen worden«, unterbrach ihn William. »Was nicht heißen will, dass das nicht noch geschehen kann. Aber alles, was wir bis jetzt wissen, ist, dass eine Frau, die behauptet, mit Geistern von Verstorbenen reden zu können, uns weismachen will, dass die Lösung gestohlen worden ist. Aber die Lieferung soll erst morgen früh um acht hier eintreffen. Und was diese Killer betrifft, die sind hinter ihr her, nicht hinter uns. Das ist ihre Angelegenheit.«

Adam wusste ja selbst, wie verrückt es klang. Die Wahrscheinlichkeit, dass Lea die Wahrheit sagte, war verschwindend gering im Vergleich zu der Wahrscheinlichkeit, dass sie nicht alle Tassen im Schrank hatte. Aber für seinen Geschmack waren das alles zu viele Zufälle. Irgendwas stimmte nicht. Und sein Gefühl sagte ihm, so unwahrscheinlich das auch war, dass sie die Wahrheit sagte.

»Ob sie nun mit Geistern reden kann oder nicht, sie weiß von uns. Sie weiß von der Formel, sie weiß, dass sie aus Pitlochry geliefert wird, sie kennt den Namen der Frau, die für die Lieferung eingeteilt ist und dass sie morgen früh kommen soll. Wir müssen herausfinden, woher sie das alles weiß.«

»Und genau deshalb will ich ja einen Interrogator hinzuziehen! Sie muss uns verraten, woher sie das weiß.«

Adams Nasenflügel bebten. »Und wenn sie nicht lügt?

Was, wenn die Lösungen morgen nicht hier ankommen und sie sitzt in der Zwischenzeit in irgendeinem Verhörzimmer mit einem Interrogator herum? Dann ist es zu spät, William. Nein, diese Frau weiß etwas.«

Adam war ganz sicher. Lea oder Madame Foulard oder wer immer sie auch sein mochte: Sie war der Schlüssel.

Keine Ahnung, zu was, aber sie war der Schlüssel und sie brauchten sie.

»Also gut«, sagte William ungnädig. »Schick mir alles, was du hast. Dann schreibe ich den Bericht und lasse das Verhör aufschieben. Schau, ob du irgendwas bei ihm findest, womit er sich identifizieren lässt, und mach ein paar Fotos. Schick sie an unseren Kontaktmann; du hast bis morgen Zeit. Wenn die Lösungen ordnungsgemäß geliefert werden, steht um zehn nach acht ein Interrogator bei dir vor der Türe, klar?«

Klar. Adam wollte gerade zustimmen, aber sein Boss hatte bereits aufgelegt. Adam machte mit seinem Handy mehrere Fotos von dem Toten, dann bückte er sich und filzte ihn gründlich - ohne Ergebnis. Er schaute sich um, entdeckte eine weggeworfene Bierflasche, rieb sie ab und drückte dann die schlaffen Finger des Toten an das Glas.

Die Flasche vorsichtig am Hals fassend wollte er gerade aufstehen, als sein Blick auf eine seltsame Tätowierung am Handgelenk des Toten fiel: ein Dreieck mit einer Sonne darin.

Er machte auch ein Foto davon, dann schickte er alles als E-Mail an den Kontaktmann. Als das erledigt war, verharrte er noch einen Moment lang in der Hocke und grübelte nach, wo er dieses Symbol schon einmal gesehen haben könnte.

Unsterblich 04 - Unsterblich wie der Morgen
titlepage.xhtml
Test-Unsterblich wie der Morgen-04_split_000.htm
Test-Unsterblich wie der Morgen-04_split_001.htm
Test-Unsterblich wie der Morgen-04_split_002.htm
Test-Unsterblich wie der Morgen-04_split_003.htm
Test-Unsterblich wie der Morgen-04_split_004.htm
Test-Unsterblich wie der Morgen-04_split_005.htm
Test-Unsterblich wie der Morgen-04_split_006.htm
Test-Unsterblich wie der Morgen-04_split_007.htm
Test-Unsterblich wie der Morgen-04_split_008.htm
Test-Unsterblich wie der Morgen-04_split_009.htm
Test-Unsterblich wie der Morgen-04_split_010.htm
Test-Unsterblich wie der Morgen-04_split_011.htm
Test-Unsterblich wie der Morgen-04_split_012.htm
Test-Unsterblich wie der Morgen-04_split_013.htm
Test-Unsterblich wie der Morgen-04_split_014.htm
Test-Unsterblich wie der Morgen-04_split_015.htm
Test-Unsterblich wie der Morgen-04_split_016.htm
Test-Unsterblich wie der Morgen-04_split_017.htm
Test-Unsterblich wie der Morgen-04_split_018.htm
Test-Unsterblich wie der Morgen-04_split_019.htm
Test-Unsterblich wie der Morgen-04_split_020.htm
Test-Unsterblich wie der Morgen-04_split_021.htm
Test-Unsterblich wie der Morgen-04_split_022.htm
Test-Unsterblich wie der Morgen-04_split_023.htm
Test-Unsterblich wie der Morgen-04_split_024.htm
Test-Unsterblich wie der Morgen-04_split_025.htm
Test-Unsterblich wie der Morgen-04_split_026.htm
Test-Unsterblich wie der Morgen-04_split_027.htm
Test-Unsterblich wie der Morgen-04_split_028.htm
Test-Unsterblich wie der Morgen-04_split_029.htm
Test-Unsterblich wie der Morgen-04_split_030.htm
Test-Unsterblich wie der Morgen-04_split_031.htm
Test-Unsterblich wie der Morgen-04_split_032.htm
Test-Unsterblich wie der Morgen-04_split_033.htm
Test-Unsterblich wie der Morgen-04_split_034.htm
Test-Unsterblich wie der Morgen-04_split_035.htm
Test-Unsterblich wie der Morgen-04_split_036.htm
Test-Unsterblich wie der Morgen-04_split_037.htm